Staatsaufbau/Innenpolitik

Staatsaufbau/Innenpolitik

Stand: April 2011

Staatsaufbau

Die Türkei ist gemäß ihrer Verfassung von 1982 eine demokratische, laizistische, soziale und rechtsstaatliche Republik. Oberhaupt des Staates ist der Staatspräsident. Ministerpräsident und von ihm bestimmte Minister bzw. Staatsminister bilden gemeinsam den Ministerrat, der die Regierungsgeschäfte führt. Die türkische Verwaltung ist zentralistisch. Das Territorium ist in 81 Provinzen, diese wiederum sind in Landkreise unterteilt, an deren Spitze jeweils ein Gouverneur bzw. ein Landrat als Repräsentant der Zentralregierung in Ankara steht. Daneben gibt es auf der Ebene der Städte und Gemeinden lokale Verwaltungen, deren Leitung von der örtlichen Bevölkerung direkt und mit absoluter Stimmenmehrheit alle fünf Jahre gewählt wird. Mitglieder der Provinz- und Stadträte werden dagegen über Parteilisten mit relativer Mehrheit gewählt, sofern die Partei die Zehn-Prozent-Schwelle überschreitet. Die Kompetenzen sind strikt getrennt. Städte und Gemeinden verfügen nur in relativ geringem Umfang über eigene Einnahmen und sind daher finanziell auf Zuwendungen der Zentralregierung angewiesen.

Das türkische Parlament, die Große Türkische Nationalversammlung, wird für vier Jahre gewählt (Mehrheitswahlrecht). Die nächsten Wahlen werden am 12. Juni 2011 stattfinden. Es gilt eine landesweite Zehn-Prozent-Hürde für den Einzug einer Fraktion ins Parlament.


Zusammensetzung des Parlaments

Bei den Parlamentswahlen im Juli 2007 erhielt die konservative AKP (Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei) 46,6 Prozent der Stimmen (+ 12 Prozent). Sie verfügt mit aktuell 333 der 550 Sitze über die absolute Mehrheit im Parlament. Hauptoppositionspartei ist die national-kemalistische CHP (Republikanische Volkspartei). Trotz eines Listenbündnisses mit der links-nationalen DSP (Demokratische Linkspartei, 6 Abgeordnete) erhielt sie nur 20,9 Prozent (+0,3 Prozent) der Stimmen und stellt 101 Abgeordnete. Zweitstärkste Oppositionskraft ist die rechts-nationalistische MHP, der mit 14,3 Prozent der Stimmen (+ 6 Prozent) der Wiedereinzug ins Parlament gelungen ist. Sie verfügt über 72 Abgeordnete. Die kurdisch-nationale BDP (Partei für Frieden und Demokratie) stellt mit 20 Abgeordneten die vierte und kleinste Parlamentsfraktion.


Grundlinien der Innenpolitik

Die Türkei verbindet Elemente einer modernen, westlichen, demokratisch strukturierten Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft mit einem lebendigen und in der türkischen Gesellschaft tief verwurzelten Islam sowie mit einem teilweise ausgeprägten Nationalismus. Sie ist geprägt von starken politischen, wirtschaftlichen und sozialen Gegensätzen, die das politische System immer wieder auf eine harte Belastungsprobe stellen. Das gemeinsame Erbe aus rund 700 Jahren osmanischer und 80 Jahren türkischer Geschichte ist eine ausgeprägt starke Rolle des Staates, gegenüber dem Rechte des Einzelnen häufig zurückstehen.

Die Türkei betrachtet sich als Modell eines laizistischen Staates (Trennung von Staat und Religion) mit mehrheitlich muslimischer Bevölkerung. Der Laizismus zählt zu den vier Grundprinzipien der Republik. Gleichzeitig übt der Staat durch das Amt für Religiöse Angelegenheiten (Diyanet) die Kontrolle über den (sunnitischen) Islam aus, der weite Teile des öffentlichen Lebens in der Türkei prägt. Handlungen und Meinungsäußerungen, die einen Einfluss des Islam auf das staatliche oder gesellschaftliche Leben fordern, können strafrechtlich verfolgt werden. Das Laizismusprinzip ist immer wieder Gegenstand innenpolitischer Auseinandersetzungen, die zum Teil mit erheblicher Schärfe geführt werden. Weitere kontroverse Themen sind die Stellung von Militär und Justiz sowie die Rechte der kurdischstämmigen Bevölkerung.

Die Westorientierung ist Staatsprogramm der modernen Türkei. Die türkische Regierung hat den Beitritt zur EU als prioritäres Ziel ihrer Politik formuliert. Sowohl Staatspräsident Gül als auch Ministerpräsident Erdoğan haben das Bekenntnis der türkischen Regierung zur Reformpolitik, die dem Wohl des Landes diene, mehrfach öffentlich betont. Sie werden darin von der Mehrheit der Bevölkerung unterstützt. Am 12. September 2010 haben sich in einem Referendum rund 58% der Türken für zuvor von der Regierung beschlossene Verfassungsänderungen ausgesprochen, die einige der in der Beitrittspartnerschaft genannten Prioritäten umsetzen. Die EU-Kommission begrüßte die Verfassungsänderungen als Schritt in die richtige Richtung.


Kurden

Vor dem Hintergrund der Sorge, dass die Anerkennung ethnischer Unterschiede dem Auseinanderbrechen des zentralistischen Einheitsstaates Vorschub leisten könnte, werden alle türkischen Staatsbürger laut Verfassung als vor dem Gesetz gleichberechtigte Individuen und nicht als Angehörige einer Mehrheit oder Minderheit angesehen. Ihre ethnische Zugehörigkeit wird amtlich nicht erfasst.

Schätzungen zufolge sind 10 bis 15 der ca. 72 Millionen türkischen Bürger kurdischer Abstammung. Viele leben verstreut im Land und sind dort in die türkische Gesellschaft integriert. In den wirtschaftlich unterentwickelten und zum Teil noch feudalistisch strukturierten Regionen im Osten und Südosten der Türkei leben ca. sechs Millionen Kurden, in einigen Gebieten stellen sie die Bevölkerungsmehrheit. Ihre Lage hat sich in den letzten Jahren dank Infrastrukturmaßnahmen, einer – wenn auch begrenzten – Verbesserung der sozio-ökonomischen Verhältnisse sowie erster Schritte bei der Gewährung kultureller Rechte deutlich verbessert, wie unabhängige Menschenrechtsorganisationen feststellen.

Der im Sommer 2009 von Staatspräsident und Regierung initiierte Prozess der sog. „Demokratischen Öffnung“, der vor allem die dauerhafte Überwindung des Kurdenkonflikts ermöglichen, aber auch die generelle Demokratisierung der türkischen Gesellschaft befördern soll, hat bisher wenig konkrete Ergebnisse hervorgebracht. Die Regierung hält jedoch offiziell an diesem Projekt fest.


Menschenrechte

Mit inzwischen neun Reformpaketen hat die Türkei seit August 2002 viele der in der EU-Beitrittspartnerschaft aufgelisteten Prioritäten im Menschenrechtsbereich in Angriff genommen: Abschaffung der Todesstrafe, Maßnahmen zur Verhütung sowie zur erleichterten Strafverfolgung und Bestrafung von Folter („Null-Toleranz-Politik“), Ausweitung der Vereinsfreiheit, Ermöglichung der Wiederaufnahme von Verfahren nach einer Verurteilung der Türkei durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), Stärkung der zivilen Kontrolle über das Militär, Beendigung gesetzlicher Diskriminierungen von Frauen sowie eine grundlegende Reform des Straf- und Strafprozessrechts haben viele Verbesserungen gebracht. Weitere Reformen, vor allem im Bereich Religionsfreiheit sowie hinsichtlich der Durchsetzung von Gewerkschaftsrechten, müssen von der türkischen Regierung noch durchgeführt werden.

Darüber hinaus kommt es vor allem auf die Anwendung der Reformgesetze in der Praxis an. Dies gilt maßgeblich im Bereich Presse- und Meinungsfreiheit. Den Schwerpunkt „Implementierung beschlossener Reformen“ betont auch die EU in ihrer Beitrittspartnerschaft mit der Türkei. Der effektive Grundrechtsschutz hängt wesentlich von den Entscheidungen türkischer Gerichte ab, die das geltende Recht auslegen.

Frauen und Männer sind nach den umfassenden Reformen im Zivil-, Arbeits-, Straf- und Verfassungsrecht der letzten Jahre in der Türkei gesetzlich weitgehend gleichgestellt. Die gesellschaftliche Wirklichkeit bleibt in weiten Teilen des Landes jedoch hinter den gesetzlichen Fortschritten weit zurück. Gehobenen Positionen von Frauen an Hochschulen, als Anwältinnen und Ärztinnen oder in der Wirtschaft in den Städten stehen traditionell-konservative Gesellschaftsstrukturen in den ländlich-konservativen Gebieten (einschließlich der von Binnenmigranten bewohnten städtischen Räume) gegenüber. Insbesondere im Südosten sind frühe arrangierte Ehen und das Fernbleiben der Mädchen vom Schulunterricht durchaus verbreitet. Trotz strenger strafrechtlicher Bestimmungen werden vor allem in den semi-feudalen Strukturen kurdischer Familienclans überwiegend Frauen Opfer familiärer Gewalt und so genannter “Ehrenmorde”, allerdings überwiegend in den großen Städten der Türkei. Die Täter müssen mit bis zu lebenslanger Freiheitsstrafe rechnen. Die Regierung und das Amt für Religiöse Angelegenheiten (Diyanet) sprechen sich dezidiert gegen innerfamiliäre Gewalt aus.

Hinweis

Dieser Text stellt eine Basisinformation dar. Er wird regelmäßig aktualisiert. Eine Gewähr für die Richtigkeit und Vollständigkeit der Angaben kann nicht übernommen werden. 

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