Rede von Außenminister Guido Westerwelle im Deutschen Bundestag bei der 1. Lesung zur Fortsetzung des ISAF-Mandats in Afghanistan
Rede von Außenminister Guido Westerwelle im Deutschen Bundestag bei der 1. Lesung zur Fortsetzung des ISAF-Mandats in Afghanistan
21.01.2011
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es ist kein Zufall, dass der heutige Tag mit seinen Debatten über Afghanistan und über die Lage in Afghanistan mit einer Regierungserklärung des Ministers Niebel begonnen hat. Das bringt klar zum Ausdruck, dass wir vordergründig nicht nur das militärische Engagement sehen dürfen, das von unseren Frauen und Männern der Bundeswehr dort geleistet wird. Da Soldaten in so großer Anzahl anwesend sind, möchte ich die Gelegenheit nutzen, mich im Namen des ganzen Hauses bei Ihnen und Ihren Kameradinnen und Kameraden für das, was Sie in Afghanistan leisten, sehr herzlich zu bedanken.
Wir wissen natürlich auch – die Soldatinnen und Soldaten wissen das ganz besonders -, dass wir in Afghanistan nicht erfolgreich sein werden, wenn wir auf eine militärische Lösung setzen. Unser militärisches Engagement dient der Absicherung der Stabilität in Afghanistan. Die Fortschritte beim zivilen Aufbau in Afghanistan, die zu erkennen sind, sind sehr bemerkenswert. Noch nie hat sich eine Bundesregierung beim zivilen Aufbau in Afghanistan so umfangreich engagiert wie diese Bundesregierung. Noch nie hat eine Bundesregierung so viel für den Aufbau und für das Training der Sicherheitskräfte vor Ort getan wie diese Bundesregierung. Ich bitte, dies bei all Ihrer Kritik zu berücksichtigen. Die Lage war anders, als Sie regiert haben.
Aber der zivile Aufbau und seine Absicherung im Interesse der Stabilität des Landes werden natürlich nur ein Teil der Lösung sein können. Entscheidend ist die politische Lösung. Diese Einsicht ist der eigentliche Strategiewechsel, der vor ziemlich genau einem Jahr auf der Londoner Afghanistan-Konferenz stattgefunden hat. Damals war dieser Wechsel noch sehr umstritten, auch in diesem Hause. Aber es zeigt sich, dass das, was die Bundesregierung mit unseren Bündnispartnern in London ausverhandelt hat, eine richtige Entscheidung gewesen ist. Wir werden in Afghanistan den Frieden nicht militärisch schaffen, sondern nur durch eine politische Lösung. Das Ziel unseres internationalen Engagements ist es daher, eine politische Lösung zu erreichen, um Afghanistan nachhaltig und dauerhaft zu stabilisieren, damit es auch in der Zeit nach unserem Engagement nicht wieder Hort und Rückzugsort des Terrorismus gegen die Welt werden kann.
Für diesen politischen Prozess ist es von großer Bedeutung, dass wir alle einbinden. Deswegen ist nicht die Bedeutung dessen zu unterschätzen, dass auch die regionale Einbindung, das heißt die Einbindung insbesondere der betroffenen Nachbarländer, mehr und mehr gelingt. In London hat es mit der Afghanistan-Konferenz angefangen. Dann gab es in Kabul zum ersten Mal eine Afghanistan-Konferenz im Land selbst. Dort waren alle Beteiligten dabei. Darunter befanden sich übrigens auch die Nachbarländer, die jahrelang nicht mitgewirkt haben. Diese Konferenz wurde begleitet von Abkommen zwischen Afghanistan und Pakistan. Solche Handelsabkommen kann man von Mitteleuropa aus als leicht machbar ansehen. Wer aber den Hintergrund der Beziehungen zwischen den beiden Ländern kennt, der weiß, dass sie in Wahrheit einen großen Fortschritt darstellen. Iran: Es gibt viele Fragen – ich nenne zum Beispiel Fragen im Zusammenhang mit dem Drogenhandel -, die nur mit der Einbindung der Nachbarländer und mit einer entsprechenden Vernetzung beantwortet werden können. All das hat stattgefunden.
Im Herbst des letzten Jahres gab es den Gipfel in Lissabon. Er bedeutete eine wirkliche Wegmarke. Ich will noch einmal die vier Daten – es sind nicht drei Eckpunkte – unseres Zeitplans, unserer perspektivischen Strategie nennen:
Erstens. In der ersten Hälfte dieses Jahres wollen wir damit beginnen, die Sicherheitsverantwortung vor Ort in Distrikten oder Provinzen zu übergeben.
Zweitens. Wir sind zuversichtlich, zum Ende des Jahres in der Lage zu sein, dass zum ersten Mal auch die Präsenz unserer Bundeswehr zurückgeführt werden kann.
Drittens. Im Jahre 2014 soll es uns gelungen sein, dass die Sicherheitsverantwortung vollständig an Afghanistan übertragen ist. Das ist nicht nur unser Ziel, es ist ausdrücklich auch das Ziel der afghanischen Regierung, dass es dann keine Kampftruppen von uns mehr im Lande geben muss.
Der vierte Punkt wird regelmäßig vergessen. Auch nach dem Jahr 2014 muss sich Deutschland für die nachhaltige Sicherheit in Afghanistan engagieren. Täten wir das nicht, hätten die Taliban sofort wieder das Sagen. Sie brächten ihre Saat des Terrorismus in die Welt, und das gesamte Engagement, zum Beispiel der Frauen und Männer der Bundeswehr, wäre vergeblich gewesen. Wir wären da, wo wir waren. Es darf kein zweites Mal ein Vakuum in Afghanistan hinterlassen werden. Das ist das, worum es uns geht.
Ich habe in der Regierungserklärung im Dezember 2010 ausführlich dazu Stellung bezogen. Entgegen dem, was dort hineingeheimnisst wird, ist es doch völlig klar, dass jeder Zeitplan natürlich immer auch unter dem Vorbehalt steht, dass dann die Lage tatsächlich auch so ist. Das ist übrigens nicht erstmalig in dieses Mandat textlich aufgenommen worden, sondern das ist wörtlich das, was ich im Dezember im Namen der Bundesregierung in der Regierungserklärung auch gesagt habe.
Mit anderen Worten: Ende 2011 wollen wir erstmalig die Präsenz der Bundeswehr reduzieren. Aber es ist doch selbstverständlich, dass wir alles unter den Vorbehalt stellen müssen: soweit es die Lage erlaubt und insbesondere unsere Soldatinnen und Soldaten vor Ort nicht gefährdet werden. Denn wir wollen einen unumkehrbaren, nachhaltigen Prozess der Übergabe der Verantwortung. Das ist das Ziel.
(…)
Die Bundesregierung ist zuversichtlich, im Zuge der Übergabe der Sicherheitsverantwortung die Präsenz der Bundeswehr ab Ende 2011 reduzieren zu können, und wird dabei jeden sicherheitspolitisch vertretbaren Spielraum für eine frühestmögliche Reduzierung nutzen, soweit die Lage dies erlaubt und ohne dadurch unsere Truppen oder die Nachhaltigkeit des Übergabeprozesses zu gefährden.
Man muss kein Militärexperte sein, es reicht, wenn Sie Ihren Menschenverstand einschalten, dann wissen Sie, dass das der vernünftige Weg ist. Und darauf kommt es auch an.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Herr Bundesminister, der Kollege Nouripour von den Grünen würde Ihnen gerne eine Zwischenfrage stellen.
Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister des Auswärtigen:
Sehr gerne, bitte sehr.
Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Außenminister, Sie haben gerade beschrieben, dass, wenn es möglich ist und die Sicherheitslage es erlaubt, am Ende dieses Jahres die Kontingente der deutschen Soldatinnen und Soldaten in Afghanistan reduziert werden sollen. Meine Frage ist: Schließen Sie damit aus, dass zwischenzeitlich durch den Einsatz der AWACS-Flugzeuge die Mandatsobergrenze angehoben oder die flexible Reserve dadurch angebrochen wird?
Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister des Auswärtigen:
Ich unterstütze die Haltung des Vorsitzenden der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands in diesem Punkt, und ich empfehle sie Ihnen auch einmal zur Aufmerksamkeit.
Der SPD-Vorsitzende Herr Gabriel ‑ man merkt, ganz allgemein gesprochen, dass Reisen läutert ‑ hat heute in einem Interview erklärt, das seien zwei unterschiedliche Vorgänge. Deutschland hat erklärt, dass wir uns derzeit an diesem AWACS-Einsatz nicht beteiligen, weil unser Schwerpunkt auf dem Training und der Ausbildung liegt. Ansonsten ist es selbstverständlich, dass wir in regelmäßigen Abständen mit unseren Bündnispartnern alles besprechen und alles überprüfen. Deswegen ist eine Frage, ob ich etwas ausschließe, vielleicht nett für den parteipolitischen Hickhack, in der Sache ist es absolut unangemessen, wenn man weiß, dass wir nur in einem Bündnis gemeinsam erfolgreich sein können ‑ absolut unangemessen!
Ich sage Ihnen das auch, Herr Kollege, weil ich glaube, dass Sie sich von der größeren Oppositionspartei, der SPD, wirklich eine Scheibe abschneiden könnten.
Diese sozialdemokratische Partei ringt mit sich, diskutiert, wägt die Argumente ab und erklärt öffentlich auf den Antrag der Bundesregierung hin, dass sie die Absicht habe, die Soldatinnen und Soldaten nicht alleine zu lassen, und sie ihnen den Rücken stärken wolle.
Bei Ihnen ist das ganz anders. Es hat noch niemals ein Außenminister so viele Soldaten in Auslandseinsätze geschickt wie der grüne Außenminister, nur, dass Sie davon nichts mehr wissen wollen, kaum dass Sie in der Opposition sitzen.
Es ist verantwortungslos, was Sie hier machen, verantwortungslos!
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Herr Bundesminister, erlauben Sie noch eine Zwischenfrage des Kollegen Stefan Liebich von der Linken?
Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister des Auswärtigen:
Ja.
Stefan Liebich (DIE LINKE):
Sehr geehrter Herr Außenminister, Sie haben gerade ein paar Passagen aus dem Text vorgelesen, der hier zur Abstimmung steht, allerdings nicht aus dem Teil, über den abgestimmt werden soll. Können Sie bestätigen, dass die Bedingung, die die SPD für ihre Zustimmung gestellt hat, im Beschlusstext des Antrags der Bundesregierung überhaupt nicht erfüllt wird und dass das, was Sie hier vorgelesen haben, sowie jede Zahl, die einen Abzug andeutet, lediglich in der Begründung des Regierungsantrags stehen?
Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister des Auswärtigen:
Ich will Ihnen kurz antworten. Sie sind doch nicht erst seit ein paar Wochen, sondern schon seit ein paar Monaten im Deutschen Bundestag.
Sie müssen doch wissen, Herr Kollege, bei allem Respekt, dass es immer so gewesen ist, dass wir einen Antragstext vorlegen und dass die Begründung natürlich auch die politische Einbettung dieses Antragstextes darstellt. Soll denn der Deutsche Bundestag ernsthaft beschließen, dass die Bundesregierung zuversichtlich sei? Ich glaube, hier sollte der Deutsche Bundestag etwas selbstbewusster sein. Wir haben eine Parlamentsarmee und keine Regierungsarmee. Deswegen hat dieser Deutsche Bundestag das letzte Wort; alles andere ist surreal.
Wir haben dann die Aufgabe, den Prozess, den wir hier hoffentlich gemeinsam oder jedenfalls mit großer Mehrheit verabschieden werden, in diesem Jahr handwerklich voranzubringen. Für die politische Lösung, die wir anstreben, haben wir im letzten Jahr drei wichtige Wegmarken gehabt: London, Kabul und die Konferenz in Lissabon. In diesem Jahr werden wir eine sehr wichtige Wegmarke bei uns in Deutschland haben, nämlich die Afghanistan-Konferenz in Bonn. Ich sage Ihnen voraus, dass diese Konferenz, die am Ende des Jahres stattfinden wird, die Schwerpunkte haben wird, um die es geht: die politische Lösung, Reintegration, auch Aussöhnung, den Dialog. In den Mittelpunkt dieser Afghanistan-Konferenz muss aber auch die Zeit ab 2014 rücken. Das war der Gedanke, bevor die Zwischenfragen gestellt worden sind.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wer heute in Afghanistan den Eindruck hinterlässt, ab 2014 sei man dort auf sich allein gestellt, weil wir uns für die Menschen dort nicht mehr interessieren, sie könnten machen, was sie wollen, und sollten zusehen, wie sie klarkommen, der wird nur erreichen, dass es weder Fortschritte bei der guten Regierungsführung sowie bei der Bekämpfung des Drogenhandels und der Korruption noch Fortschritte im demokratischen Prozess geben wird, den wir alle wollen. Dann riskiert man, dass genau die Partner, die wir brauchen, um das Land auf Dauer sicher aufzubauen, nichts mehr mit uns zu tun haben wollen, weil sie anschließend um ihr Leben und das ihrer Familien fürchten müssen.
Weil so etwas keine verantwortungsvolle Politik wäre, wollen wir einen Prozess der Übergabe der Verantwortung in Verantwortung. Man bringt etwas verantwortungsvoll zu Ende, was man gemeinsam im Bundestag beschlossen hat, und man enttäuscht nicht die Freunde, die man braucht, um mit Blick auf Terrorismus auch unsere eigene Sicherheit hier in Deutschland vergrößern zu können.
Wir haben im Rahmen unserer Mitgliedschaft im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen die Koordination für Afghanistan übernommen. Ich werde deswegen regelmäßig hier im Deutschen Bundestag zu diesem Thema sprechen. Ich gehe davon aus, dass wir darüber regelmäßig in den Ausschüssen diskutieren werden. Ich kann Ihnen zusagen, dass ich Sie ‑ Ihre Obleute und Ihre Repräsentanten ‑, wo immer ich kann, über die Fortschritte parlamentarisch auf dem Laufenden halten werde. Ich glaube, das konnten Sie in den letzten Monaten verfolgen; das soll so fortgesetzt werden. Ich glaube nämlich, dass eine breite Mehrheit im Deutschen Bundestag viel weniger eine Angelegenheit der Politik als eine klare Rückendeckung für die Frauen und Männer der Bundeswehr ist, die in Afghanistan ihren Kopf für unsere Freiheit und unsere Sicherheit hinhalten.
Eine solche breite Mehrheit ist auch für unsere internationalen Verbündeten, für unsere Bündnispartner wichtig, damit sie wissen: Das wird von der Politik in der Breite getragen.
Man muss in der Politik bereit sein, Verantwortung zu übernehmen, selbst wenn es einen in den Umfragen vielleicht das eine oder andere Prozentpünktchen kostet.
Es geht erst einmal um die Sicherheit, die Freiheit, die Zukunft unseres Landes und Afghanistans. Meine Damen und Herren von der Opposition, von den Grünen, Sie sollten sich ein Beispiel an den Sozialdemokraten nehmen. Wenn ich das sage, sollte Sie das nachdenklich machen.
Herzlichen Dank.