Interview: Staatsministerin Pieper zur Lage der Ukraine nach 20 Jahren Unabhängigkeit (Leipziger Volkszeitung)
Erschienen in der Leipziger Volkszeitung (01.02.2011)
20 Jahre Unabhängigkeit – wo steht die Ukraine heute im Vergleich zu den anderen mittel- und osteuropäischen Ländern?
Die Ukraine hat sich in den letzten Jahren eine Vorreiterrolle in der Region erarbeitet – etwa, was die Annäherung an die Europäische Union angeht. Voraussetzung für den weitergehenden Prozess der Annäherung ist allerdings die konsequente Erfüllung rechtsstaatlicher Standards und demokratischer Grundnormen. Dazu haben die letzten Kommunalwahlen im Oktober vergangenen Jahres sicherlich nicht beigetragen. Dort sind von europäischen Beobachtern Unregelmäßigkeiten festgestellt worden. Dennoch setzen wir darauf, dass die Ukraine unter den osteuropäischen Transformationsländern auch in Zukunft an der Spitze der Entwicklung steht.
Was macht Sie da angesichts der letzten Tendenzen, die auf eine innenpolitische Stagnation deuten, so sicher?
Klar ist, dass demokratische Rückschritte den Weg der Ukraine in Richtung Modernisierung und EU bremsen. Die Ukraine hat aber mit der Orangenen Revolution eine demokratische Tradition begründet. Ich glaube, dass der Geist der Freiheit in der Zivilgesellschaft sehr stark verankert ist.
Bleibt die Ukraine aus europäischer Sicht auch unter dem russlandnahen Präsident Viktor Janukowitsch ein Kandidat für die EU?
Eine gute Zusammenarbeit der Ukraine mit der Europäischen Union und gleichzeitig mit Russland schließt sich nicht aus. Wir haben Interesse auch an guten Beziehungen zwischen der Ukraine und Russland, die zur Stabilisierung der gesamten Region beitragen können. Allerdings erwarten wir von der Ukraine ein klares Bekenntnis zu den Werten der EU, das auch in der Praxis umgesetzt werden muss. Die ersten Reformen, die Präsident Janukowitsch auf den Weg gebracht hat – etwa im Renten- und Sozialwesen – sind Zeichen einer Entwicklung zu Stabilität. Noch in diesem Jahr könnte ein Assoziierungsabkommen mit der EU unterzeichnet werden.
Besteht denn die Gefahr eines erneuten Gasstreits, der auch Deutschland tangieren könnte, weiter?
Nein, das glaube ich nicht. Deutschland hat ja auch als Konsequenz des letzten Gasstreits seine Politik des Energiemixes entwickelt, so dass es keine einseitige Abhängigkeit von einem Lieferland gibt.
Wie weit sollte Deutschland im Verhältnis zu Kiew russische Befindlichkeiten in Rechnung stellen?
Grundsätzlich setzt deutsche Außenpolitik stets auf Dialog und nicht auf Konfrontation. Dieser Ansatz gilt auch für das Dreiecks-Verhältnis Deutschland-Ukraine-Russland.
Gilt der Grundsatz des Dialogs auch in Bezug auf die Frage einer Nato-Mitgliedschaft der Ukraine, die Russland bekanntlich vehement ablehnt?
Kiew strebt heute keine Mitglied-schaft in der Nato an. Entsprechend ist auch unser Dialog darauf ausgerichtet, die praktische Zusammenarbeit mit der Ukraine auch im sicherheitspolitischen Bereich weiterzuentwickeln – auch ohne eine direkte Beitrittsperspektive.
Die einstigen Führungsfiguren der Orangenen Revolution sind heillos zerstritten. Inzwischen sorgt die angekündigte Präsidentschaftskandidatur des Boxers Vitali Klitschko für Aufmerksamkeit. Trauen Sie dem Ex-Sportler eine politisch tragende Rolle zu?
Warum nicht? Die meisten in Deutschland kennen ihn zwar als Sportler, aber in der Ukraine ist sein politisches Talent inzwischen bekannt. Dort wird er jedenfalls ernst genommen. In der Ukraine werden innerhalb der Parteien vor allem Persönlichkeiten wahrgenommen. Da hat Vitali Klitschko durchaus Chancen.
Interview: Kostas Kipuros