Innenpolitik

Innenpolitik

Stand: März 2011

Verfassungsmäßiger Staatsaufbau

Nach dem Sturz des Taliban-Regimes 2001 und der vorübergehenden Einsetzung der Verfassung von 1964 trat am 26.01.2004 die von der verfassungsgebenden Großen Ratsversammlung („Loya Dschirga“) angenommene neue afghanische Verfassung in Kraft. Während diese explizit die Einhaltung der Menschenrechtscharta der Vereinten Nationen fordert (Präambel und Artikel 7), legt sie gleichzeitig fest, dass kein Gesetz in Widerspruch zu den Grundsätzen des Islam stehen darf („Scharia-Vorbehalt“, Artikel 3). Der Dualismus des religiösen und säkularen Rechtssystems in der afghanischen Verfassung bildet eine der zentralen Herausforderungen für Rechtsstaatlichkeit in Afghanistan.

Die Verfassung sieht einen direkt vom Volk gewählten Präsidenten vor, der neben seiner Funktion als Staatsoberhaupt gleichzeitig auch Regierungschef ist. Die afghanische Nationalversammlung („Shuraye Melli“) besteht aus dem Unterhaus (Volksvertretung, „Wolesi Jirga“) und dem Oberhaus (Ältestenrat/Senat, „Meshrano Jirga“), die nach dem Modell eines klassischen Zweikammersystems gleichberechtigt an der Gesetzgebung beteiligt sind. Beide Kammern haben sich am erstmals 19.12.2005 konstituiert. Nach der Veröffentlichung der Ergebnisse der Unterhauswahl vom 18.09.2010 ist das neue Parlament am 26.01.2011 zusammengetreten. Wegen der Auseinandersetzung zwischen StP Karsai und den neu gewählten Abgeordneten um die Konstituierung des neuen hat sich die Wahl des Parlamentssprechers über einen Monat hingezogen. Am 27.02. wurde Haji Abdul Rauf Ibrahimi, ein 50-jähriger Usbeke aus dem strategisch wichtigen Distrikt Imam Sahib (Provinz Kundus), gewählt.

Das Unterhaus („Wolesi Jirga“) verfügt über 249 Sitze, die sich proportional zur Bevölkerungszahl auf die 34 Provinzen verteilen. Für Frauen und für die Minderheit der Kuchi gibt es gemäß Verfassung reservierte Sitze. Das Oberhaus („Meshrano Jirga“) verfügt über 102 Sitze. Die Zusammensetzung des Oberhauses wird zu zwei Dritteln von den gewählten Provinzräten bestimmt, ein Drittel (50% davon gemäß Verfassung Frauen) wird von Präsident Karzai ernannt. Eine Ernennung der Senatoren durch Distrikträte konnte bislang nicht erfolgen. Auch die für 2010 geplanten Distriktwahlen haben nicht stattgefunden.

Das Unterhaus hat 19 Kommissionen (Ausschüsse) gebildet, deren Mitglieder vom Plenum bestimmt wurden. Drei ??? Ausschüsse (Gesundheit, Frauen und Behinderte) werden von Frauen geleitet. Die Ausschussvorsitzenden wurden von den Mitgliedern gewählt. Gemäß Artikel 157 der Verfassung wurde eine Unabhängige Kommission zur Überwachung der Umsetzung der Verfassungsbestimmungen eingerichtet.

Der Präsident schlägt der „Wolesi Jirga“ die Mitglieder seines Kabinetts vor. Jede(r) Minister(in) muss in Einzelabstimmung eine Mehrheit der Abgeordneten zur Bestätigung gewinnen. Die „Wolesi Jirga“ hat ferner das Recht, einzelne Regierungsmitglieder per Mehrheitsbeschluss zu entlassen.

Die Verfassung gewährleistet die wichtigsten Grundrechte und schreibt die Gleichberechtigung von Männern und Frauen fest. Afghanistan verfügt damit über einen – gerade im regionalen Kontext – modernen und demokratischen Verfassungstext. In der afghanischen Verfassung ist allerdings, wie in vielen anderen Verfassungen islamisch geprägter Staaten auch, ein Vorbehalt (Artikel 3) enthalten, dass kein Gesetz dem Islam widersprechen darf. Artikel 130 der afghanischen Verfassung sieht etwa die Anwendung religiösen Rechts (Scharia) in den Grenzen der Verfassung vor, sofern keine andere gesetzliche Norm anwendbar ist. In der Praxis führen beide Vorbehalte zu einer Konkurrenzsituation zwischen der modernen staatlichen Rechtsordnung und der Scharia.

Parallel zum Parlament haben sich 2006 im ganzen Land auch die Provinzräte konstituiert. Ihr Verfassungsauftrag ist die “Beteiligung an der Verwirklichung der staatlichen Entwicklungsziele und der Förderung der Provinzangelegenheiten“ sowie die Ausübung einer “beratenden Funktion in den Belangen der Provinz in Zusammenarbeit mit der örtlichen Verwaltung“ (Art. 139 der afghanischen Verfassung).

Justizwesen

Neben der afghanischen Verfassung basiert der Justiz-Wiederaufbau seitdem auf vier Dokumenten, dem „Afghanistan Compact“ von 2006, der Afghanischen Nationalen Entwicklungsstrategie (ANDS) von 2008, der Nationalen Strategie für den Justizsektor (NJSS) von 2008 und dem Nationalen Justizprogramm (NJP) von 2008. Auf dieser Grundlage verpflichtete sich der afghanische Staat, mit internationaler Unterstützung ein Justizwesen zu etablieren, das im Einklang mit islamischen Grundsätzen, internationalen Normen, rechtsstaatlichen Verfahren und afghanischen Rechtstraditionen steht. Diesen Bestrebungen steht die Herausforderung konkurrierender Rechtssysteme entgegen: Während sich das Engagement der internationalen Gemeinschaft nur auf das staatliche Rechtssystem bezieht, ist die afghanische Rechtswirklichkeit auch von Urteilen durch traditionelle Rechtssprecher sowie durch die Aufständischen, meist die Taliban, geprägt.

Abgesehen von der Konkurrenz dreier Rechtssysteme sind der Wirksamkeit formal bestehender rechtsstaatlicher Prinzipien auch durch die Realitäten der afghanischen Nachkriegsgesellschaft enge Grenzen gesetzt: Es mangelt an ausreichender fachlicher Qualifikation der juristischen Funktionsträger, an technischer Ausstattung und an Infrastruktur.Die Konkurrenz der drei parallel existierenden Rechtssysteme im Land äußert sich in der begrenzten Wirksamkeit der Reformen des staatlichen Justizsektors: So konsultieren laut Umfragen 80% der afghanischen Bevölkerung weiterhin das informelle, traditionell geprägte Rechtssystem der Stammes- und Dorfräte (Schuren und Dschirgas), besonders in ländlichen Gebieten.

Die Neubesetzung des Obersten Gerichts im Jahre 2006 stellte einen wichtigen, ersten Baustein auf dem Weg zur grundlegenden Reform des Justizwesens dar. Mit der Ernennung eines Generalstaatsanwalts im September 2006 verfügt Afghanistan nun über einen kompletten Satz von Verfassungsorganen. Das Auswärtige Amt hat aus dem Stabilitätspakt Afghanistan seit 2004 insgesamt fast 11 Mio. € für Justizprojekte bereitgestellt. Zudem stellt das Auswärtige Amt erhebliche Mittel für den Aufbau und die Ausbildung der afghanischen Polizei bereit (2010: 77 Mio. Euro).

Trotz bestehender Defizite konnte das Engagement internationaler Akteure, afghanischer Nichtregierungsorganisationen und insbesondere einzelner Persönlichkeiten in der Justiz seit 2007 einen weichenstellenden Beitrag zur Verbesserung rechtsstaatlichen Handelns in Afghanistan leisten. Dazu zählt die grundlegende Ausrichtung des afghanischen Justizsektors an den Menschenrechten, mit der die „Herrschaft der Gewehre“ durch die Herrschaft des Rechts ersetzt werden soll. Dies legt immerhin eine Grundlage für die landesweite Wirkung des staatlichen Justizsektors. Die afghanische Justiz ist mit der Unterstützung der internationalen Staatengemeinschaft mittlerweile auf einem guten Weg, Fortschritt im Aufbau eines sich künftig selbst tragenden Justizwesens zu erzeugen.

Hinweis

Dieser Text stellt eine Basisinformation dar. Er wird regelmäßig aktualisiert. Eine Gewähr für die Richtigkeit und Vollständigkeit der Angaben kann nicht übernommen werden. 

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