Innenpolitik

Innenpolitik

Stand:  März 2011

Aktuelle Situation

Nach Scheitern der Verhandlungen über eine Reform des verfassungswidrigen Wahlkreises Brüssel-Halle-Vilvoorde (BHV) und Aufkündigung der Regierungskoalition durch die flämischen Liberalen trat die Regierung Leterme am 26.04.2010 zurück. Abgeordnetenkammer und Senat lösten sich mit Wirkung vom 07.05.2010 auf. Am 13.06.2010 fanden vorgezogene föderale Neuwahlen statt, die in Flandern zu einem erdrutschartigen Sieg (28 Prozent) der flämischen Nationalisten (N-VA) unter Bart De Wever, in der Wallonie zum bisher besten Ergebnis (35 Prozent) für die frankophonen Sozialisten (PS) unter der Führung von Elio Di Rupo führten.

Seither versuchen die beiden Wahlgewinner mit völlig konträren Vorstellungen und Parteiprogrammen sich auf eine Staatsreform zu einigen und eine Koalitionsregierung (ohne Vlaams Belang) zu bilden, die „das völlig Unvereinbare“ in einem Kompromiss zusammen-führen soll.

Die Vorverhandlungen zur Regierungsbildung des vom König ernannten „Präformateurs“ Elio Di Rupo (PS) sind am 3.9.2010 vorläufig gescheitert. Seither versuchten mehrere von König Albert II ernannte Vermittler ohne Erfolg, einen Kompromiss für eine Staatsreform zu finden. Als 7. Vermittler versucht seit dem 2.März 2011 der neue Vorsitzende der flämischen Christdemokraten (CD&V), Wouter Beke, vorerst eine Einigung zwischen den beiden großen Parteien N-VA (flämische Nationalisten) und PS (frankophone Sozialisten) zu erzielen. Dreh-und Angelpunkt für eine Koalitionsbildung wird die Staatsreform sein. Diese 6.Staatsreform wird voraussichtlich mehr Kompetenzen und mehr Geld für die Gebietskörper-schaften, eine Aufteilung des verfassungsrechtlich und politisch umstrittenen Wahlbezirks BHV (Brüssel-Halle-Vilvoorde)und einen finanziellen Ausgleich für die Hauptstadtregion Brüssel umfassen. Die Regierung unter PM Leterme bleibt bis zur Regierungsbildung als geschäftsführende Regierung im Amt. In dieser Funktion führte sie den Vorsitz Belgiens in der EU im 2. Halbjahr 2010. Im März diesen Jahres legte sie einen Haushalt für 2011 vor und beschloss am 18.03. eine Beteiligung Belgiens an den militärischen Aktionen gegen Libyen. Sie hat mit diesen Aktivitäten den Rahmen der Befugnisse einer geschäftsführenden Regierung stark ausgedehnt.

Die nächsten Monate werden zeigen, welchen Weg Belgien in Zukunft als Staat gehen wird. Flämische Nationalisten verfolgen als Fernziel ein selbständiges Flandern. Dieses Ziel wird aber bisher laut Umfragen von mehr als 80 Prozent der Bevölkerung Flanderns nicht geteilt.

Die Regional- und Gemeinschaftswahlen am 7. Juni 2009 haben in Flandern zur Regierungsbeteiligung der Nationalisten, und in Wallonien/Französischsprachiger Gemeinschaft und Brüssel zur Beteiligung der frankophonen Grünen geführt. Ministerpräsidenten blieben Kris Peeters (Flandern), Rudy Demotte (Wallonien und Französische Gemeinschaft), Charles Picqué (Brüssel) und Karl-Heinz-Lambertz (Deutschsprachige Gemeinschaft).


Monarchie

Belgien ist eine konstitutionelle Monarchie: Akte des Königs bedürfen der Gegenzeichnung durch die Minister. Belgisches Staatsoberhaupt ist seit 1993 Albert II.


Bundesstaat

Seit 1994 ist Belgien ein Bundesstaat. Die Regionen (Flandern, Wallonien, Brüssel) haben eigene Parlamente (Räte) und Regierungen sowie eigene Finanz- und Steuerhoheit. Die Regionen sind auch für die Pflege eines Teils der internationalen Beziehungen zuständig. Diese letzte Reform verschob den Zuständigkeitsschwerpunkt der doppelten belgischen Föderation (Regionen und Gemeinschaften) zugunsten der Regionen. Die Provinzen wurden gänzlich den Regionen unterstellt, die damit ein noch höheres Maß an Autonomie erhielten.

Die Gemeinschaften (Flämische, Französische und Deutschsprachige Gemeinschaft) verfügen analog zu den Regionen über eine eigene Exekutive und Legislative. Die Flämische Gemeinschaft ist mit der Region Flandern deckungsgleich; Rat und Exekutive sind mit denen der Region Flandern fusioniert (Sitz in Brüssel). Die Französische Gemeinschaft umfasst das Gebiet der Regionen Wallonien und Brüssel; hier besteht keine Kongruenz zwischen Gemeinschaft (Sitz Brüssel) und Region (Sitz Namur). Derzeit sind drei der insgesamt sieben Minister der Region Wallonien auch Mitglieder der Regierung der Französischen Gemeinschaft. Seit April 2008 besteht auch eine Personalunion in der Funktion des Ministerpräsidenten.

Die Deutschsprachige Gemeinschaft in Ostbelgien (circa 75.000 Personen) gehört zur Region Wallonien und hat ihren Regierungssitz in Eupen. Sie genießt einen besonderen Minderheitenschutz und bildet aufgrund vielfältiger Vernetzungen eine Brücke nach Deutschland.


Nationales Parlament

Das Parlament besteht aus zwei Kammern, der Abgeordnetenkammer und dem Senat. In der Verfassung von 1994 wurde die Zahl der Kammermitglieder auf 150 und die des Senats auf 71 verringert. Die Abgeordneten werden alle vier Jahre direkt gewählt; von den Senatoren werden 40 direkt auf vier Jahre gewählt, während die übrigen kooptiert bzw. von den Regionalparlamenten benannt werden. Die Abgeordnetenkammer ist für die allgemeine Gesetzgebung, den Haushalt und die Kontrolle der Regierung zuständig. Der Senat wirkt nur an Verfassungsänderungen und bei der Ratifizierung internationaler Verträge mit und hat das Recht der Zweiten Lesung. Im übrigen hat er seit 1994 nur noch beratende Aufgaben. In der Kammer sind gegenwärtig elf Parteien vertreten.


Regierung

Die Regierung wird nach ersten Sondierungsgesprächen eines führenden Politikers („Informateur“bzw. „Präformateur“) von einem „Formateur“ (meist der künftige Premierminister) entsprechend den Mehrheitsverhältnissen im Parlament gebildet. „Informateur“ und „Formateur“ werden vom König bestimmt, der dadurch auf die Regierungsbildung Einfluss nehmen kann. Formell ernennt der König die Regierung. Sie muss sich jedoch zuvor der Kammer zur Vertrauensabstimmung stellen. Gestürzt werden kann sie seit 1994 nur noch durch ein „konstruktives“ Misstrauensvotum. Seit 1970 ist eine Parität von flämischen und frankophonen Ministern vorgeschrieben, wobei der Premierminister nicht mitgerechnet wird. Die Verfassung von 1994 beschränkt das Kabinett auf 15 Mitglieder; es kann aber durch „Staatssekretäre“ erweitert werden (derzeit sieben). 


Der Sprachenstreit

Hintergrund des föderalen Verfassungsaufbaus ist die Auseinandersetzung um die Gleichberechtigung der niederländischen Sprache und Kultur mit dem bis nach 1945 dominierenden Französisch. Diese Auseinandersetzung führte ab den 50er Jahren zur Festlegung von Sprachgebieten, in denen die niederländische beziehungsweise französische Sprache ausschließlich als Verkehrssprache gilt. Die Verfassung von 1994 hat sich dabei bemüht, einen Ausgleich zwischen den an der staatlichen Einheit festhaltenden Wallonen und den flämischen Zentrifugalkräften zu gewährleisten. 

Der Sprachenstreit ist nach wie vor aktuell und zeigt sich beispielsweise bei der  im Rahmen der Regierungsverhandlungen wieder akuten Debatte um die Spaltung des zweisprachigen Wahlbezirks Brüssel-Halle-Vilvoorde, in der insbesondere flämische Parteien fordern, in den entsprechenden flämischen Gemeinden nur nach niederländischsprachigen Listen zu wählen.


Regionale Parteistruktur in Belgien

In Belgien bestehen keine nationalen Parteien; vielmehr sind die jeweiligen Parteifamilien (Sozialisten, Liberale, Christdemokraten, Grüne etc.) in den Regionen Flandern und, Wallonien eigenständig organisiert und nehmen zu einzelnen Politikthemen teilweise auch unterschiedliche Positionen ein. Die drei traditionellen politischen Parteifamilien – Liberale, Christdemokraten und Sozialisten – haben sich in der Nachkriegszeit in flämische und frankophone Parteien aufgespaltet, deren regionale Verankerung heute ebenso wichtig ist wie ihre allgemeine politische Ausrichtung. Zwei „grüne“ Parteien haben das Spektrum seit 1980 erweitert und früher typische Trennlinien verwischt. In Flandern spielt der fremdenfeindliche und rechtsextreme Vlaams Belang eine Rolle. Seine Bedeutung hat in den Regionalwahlen im Juni 2009 jedoch abgenommen: 15,3 Prozent gegenüber 24,2 Prozent 2004. In den föderalen Wahlen vom 13.6.2010 verlor er 5 Sitze und ist seither in der Kammer nur noch mit 12 Sitzen vertreten. Die Sitzverteilung der übrigen Parteien ist in der Länderübersicht „Belgien auf einen Blick“ aufgelistet.

Hinweis

Dieser Text stellt eine Basisinformation dar. Er wird regelmäßig aktualisiert. Eine Gewähr für die Richtigkeit und Vollständigkeit der Angaben kann nicht übernommen werden. 

gesamten Artikel lesen zurück mit ESC