Außenminister Westerwelle: ‚Europas Weg in die Welt‘

Wenn Europa im Konzert der alten und neuen Mächte mitspielen will, führt auch in der Sicherheitspolitik kein Weg an vertiefter Integration vorbei. Beitrag von Bundesaußenminister Guido Westerwelle aus Anlass der Münchner Sicherheitskonferenz (Süddeutsche Zeitung, 04.02.2011)

Die Welt ist in einer Phase von dramatischem Wandel und Umbruch, die globalen Gewichte verschieben sich. Aufstrebende Länder haben in kurzer Zeit einen gewaltigen Zuwachs an ökonomischer und politischer Bedeutung erfahren. In der G-20-Gruppe stellen die Schwellenländer eine Mehrheit. Finanz- und Wirtschaftskrise haben diese Prozesse beschleunigt: Während die USA und Europa schwere ökonomische Einbrüche hinnehmen mussten, erwiesen sich China, Indien und Brasilien als Lokomotiven der Konjunktur.

Die verantwortungsvolle Gestaltung der Globalisierung ist eine der zentralen Aufgaben der internationalen Politik. Wenn Europa weiter in der ersten Reihe mitspielen will, darf es sein Potential nicht verspielen. Kein europäischer Staat allein verfügt über genügend politisches und wirtschaftliches Gewicht, um die Geschicke und künftige Gestaltung der Welt nachhaltig zu beeinflussen.

Die Nachkriegsgeneration erfand Europa als die Antwort auf die zivilisatorische Katastrophe zweier Weltkonflikte. Die Fortsetzung des europäischen Einigungswerks ist heute nicht weniger wichtig – nur aus anderen Gründen. Lag das Wesen der europäischen Integration nach dem Zweiten Weltkrieg in der Schaffung von Ausgleich, Frieden und Wohlstand, so ist die Begründung Europas heute seine Selbstbehauptung in einer globalisierten Welt. Nur eine nach innen gefestigte und nach außen handlungsfähige Europäische Union kann europäischen Wohlstand sichern, wirtschaftliche Konkurrenzfähigkeit erhalten und unseren Einfluss bei der Gestaltung der internationalen Beziehungen wahren.

Die Währungsunion war ein politisches Projekt. Wirtschafts- und Finanzkrise haben aber gezeigt, dass auch die wirtschaftlichen Pfeiler, auf denen der Euro ruht, dringend gestärkt werden müssen. Eine stabile Währung und ein stabiler Binnenmarkt brauchen gemeinsame Anstrengungen in der Wirtschafts- und Haushaltspolitik. Was wir erleben, ist keine Krise des Euro, sondern eine Schuldenkrise in Europa. Deshalb müssen wir Europäer nach innen intensiv auf zwei Feldern arbeiten: Wir müssen unsere Haushalte konsolidieren, damit einzelne Euro-Mitglieder, aber auch unsere Währung insgesamt weniger angreifbar werden. Und wir müssen unsere Wettbewerbsfähigkeit steigern – und zwar gerade im internationalen Maßstab. Nur wenn uns dies gelingt, werden wir einen dauerhaft starken und stabilen Binnenmarkt schaffen.

Stabilität und Konsolidierung nach innen sind Grundlage unserer Handlungsfähigkeit nach außen. Nur mit einem stabilen Binnenmarkt wird die Europäische Union die Kraft haben, als überzeugender Akteur auf der internationalen Bühne zu handeln.

Um das europäische Gewicht zum vollen Nennwert in die Waagschale zu werfen, bedarf es einer besseren Abstimmung nach außen. Auch in der Außen- und Sicherheitspolitik sind Schritte in Richtung vertiefter Integration notwendig. Wir stehen am Beginn eines Jahrzehnts, in dem die Weichen zur Bewältigung der prägenden Herausforderungen dieses Jahrhunderts gestellt werden. Das betrifft die Schaffung angemessener Strukturen einer Weltordnungspolitik ebenso wie den Umgang mit Mächten, die diesen Prozess zu ihren Gunsten zu beeinflussen suchen. Die EU muss sich zu einem umfassend handlungsfähigen Akteur von globalem Gewicht entwickeln, nicht zuletzt um die eigenen Einfluss- und Gestaltungsmöglichkeiten zu sichern.

Ein vollwertiger globaler Akteur wird die Union aber nur, wenn sie das außenpolitische Potenzial nutzt, das der Vertrag von Lissabon bereithält. Das Amt der Hohen Vertreterin der Europäischen Union für Außen- und Sicherheitspolitik und der ihr unterstellte Europäische Auswärtige Dienst bieten die Möglichkeit, mit einer Stimme zu sprechen. Sie schaffen die Grundlage, um europäische Interessen in fokussierte Diplomatie umzusetzen. Es liegt an den Mitgliedstaaten und der Kommission, ob sie dem Amt und seinen Instrumenten die erforderliche Unterstützung zukommen lassen. Nötig dafür ist die Bereitschaft aller, zusammen zu handeln und nationale Souveränität in den Dienst gemeinsamer Interessen zu stellen.

Ein wesentliches Element für die globale Rolle der Europäischen Union ist eine leistungsfähige Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Als größter Wirtschaftsraum und Handelsmacht, als Wertegemeinschaft und Zusammenschluss liberaler Demokratien hat die Europäische Union ein Interesse an stabilen und friedlichen Verhältnissen in der ganzen Welt. Das nötige Engagement dafür kann Europa aber nicht allein den USA und anderen Staaten überlassen. Die Entwicklung der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik – zum Schutz vor Terrorismus, zur Sicherung von Handels- und Seewegen oder zur Bewältigung von Krisen – wird wesentlich mit darüber entscheiden, in welchem Ausmaß Europa gestaltend am Weltgeschehen teilhaben wird. Keine andere Macht der Welt wird der Europäischen Union die Vertretung ihrer eigenen sicherheitspolitischen Anliegen abnehmen. In der Nachbarschaft nach Osten und nach Süden, in der Russland-Politik, in Bezug auf die Türkei – Europa hat aufgrund seiner geographischen Lage und wirtschaftlichen Vernetzung spezifische sicherheitspolitische Interessen, die es wahrnehmen muss.

In der Theorie verfügt die EU mit der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik über eines der modernsten Instrumente zum Umgang mit Krisen und Konflikten. Mit der Vereinigung ziviler und militärischer Mittel hat sie einen Ansatz geschaffen, der dem umfassenden Sicherheitsbegriff in der modernen Welt gerecht wird.

Aber jeder gute Ansatz kann nur Früchte tragen, wenn er auch in die Tat umgesetzt wird. In den zurückliegenden zehn Jahren ist einiges erreicht worden. Die Europäische Union hat eine Reihe erfolgreicher Stabilitäts- und Friedensmissionen durchgeführt. Doch nach wie vor stehen die gemeinsamen Einsätze im Rahmen der Europäischen Union in keinem Verhältnis zu den mehr als 300 Milliarden Euro, die die Verteidigungshaushalte für 27 nationale Armeen verschlingen.

Wenn Europa im Konzert der alten und neuen Mächte mitspielen will, führt auch in der Sicherheitspolitik kein Weg an vertiefter Integration vorbei. Der Lissabon-Vertrag bietet auch hier einen gangbaren Weg: Er ermöglicht denjenigen EU-Staaten, die dazu bereit sind, sich zu konkreten Projekten zusammenzuschließen und zum Vorreiter für alle zu werden – wobei es den übrigen Mitgliedstaaten offensteht, sich anzuschließen.

Um Fortschritte bei der Zusammenarbeit und Integration zu fördern, haben die Außen- und Verteidigungsminister aus Polen, Frankreich und Deutschland eine Initiative zur Weiterentwicklung der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik ergriffen. Mit ihr sollen die Planungs- und Führungsfähigkeiten ausgebaut und die Zusammenarbeit der Streitkräfte der EU-Mitgliedstaaten intensiviert werden. Am Ende steht die Vision einer gemeinsamen europäischen Verteidigung, das heißt: die kluge Bündelung unserer sicherheits- und verteidigungspolitischen Ressourcen.

Die Selbstbehauptung und Rolle Europas in der Welt ruht auf zwei Säulen: einem erfolgreichen Binnenmarkt, der sich auf eine solide Wirtschafts- und Finanzpolitik stützt, als innere Grundlage für erfolgreiches Handeln nach außen. Und einer kraftvollen Außen- und Sicherheitspolitik, die unsere europäische Interessen und Fähigkeiten zusammenführt, zur Sicherung von Mitsprache und Gestaltung in globalen Angelegenheiten. Der Weg dahin mag mühsam sein, aber er ist notwendig.

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