Wirtschaft
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Stand: März 2011
Kurzcharakterisierung der indischen Wirtschaft
Nach vier Jahren mit ca. 9% Wachstum und einer im Vergleich leichten Abschwächung 2008 befindet sich Indien wieder auf einem kräftigen Wachstumspfad von 8,6%. Indien ist unter den großen Volkswirtschaften die nach China weltweit am stärksten expandierende Volkswirtschaft. Bei derzeit 1,2 Mrd. Einwohnern wird es bis zur Mitte des Jahrhundert voraussichtlich nicht nur das bevölkerungsreichste Land der Erde sein, sondern auch mit seinem Bruttoinlandsprodukt nach China und USA an dritter Stelle liegen.
Ungeachtet dieses beeindruckenden Wachstums bleibt Indien mit einem durchschnittlichen jährlichen Pro-Kopf-Einkommen von nur 1185 USD und enormen Defiziten in der sozialen Infrastruktur weiterhin ein Entwicklungsland, 28% der Bevölkerung leben unterhalb der Armutsgrenze von 1 USD pro Kopf/Tag und mehr als 50% von weniger als 2 USD. Auf dem Human Development Index der UNDP steht Indien auf Platz 119 unter 169 erfassten Staaten. Während es weltweit die meisten Millionäre und Milliardäre beheimatet, liegt es bei vielen Sozialindikatoren deutlich unter den Durchschnittswerten von Subsahara-Afrika.
Indien ist weiterhin von extremen wirtschaftlichen und sozialen Gegensätzen geprägt.
Das hohe Wachstum der letzten Jahre hat die regionalen Entwicklungsunterschiede auf dem Subkontinent und das zunehmende Einkommensgefälle zwischen der expandierenden städtischen Mittelschicht und der überwiegend armen Bevölkerung auf dem Lande, wo noch knapp 70% aller Inder leben, schärfer hervortreten lassen. Dort stagnieren die Realeinkommen bestenfalls. Die erhofften massiven Beschäftigungseffekte des Wachstums sind bislang ausgeblieben; die Realeinkommen im ländlichen Raum stagnieren: die Struktur der indischen Volkswirtschaft unterscheidet sich von denen anderer dynamisch wachsender Schwellenländer maßgeblich; die verändert sich nur langsam.
Voraussetzung für den wirtschaftlichen Aufstieg Indiens und die Überwindung des über Jahrzehnte schwachen Wachstums war die sukzessive Deregulierung und Öffnung der indischen Volkswirtschaft nach der Finanzkrise von 1991. Die Grundrichtung dieser Reformen ist seither von keiner der in Delhi regierenden Koalitionen infrage gestellt worden.
Die Kongress-geführte UPA-Regierung wurde 2009 zwar komfortabel wiedergewählt, die in sie gesetzte Erwartungshaltung konnte bislang jedoch nicht erfüllt werden (Premierminister Manmohan Singh lässt weiterhin keine Zweifel daran, dass weitere Reformschritte anstehen (Veräußerung von Staatsanteilen, Deregulierung, Steuersystem, Banken, Versicherungen) und insgesamt die weltwirtschaftliche Integration des Landes vorangetrieben werde.
Nach der globalen Wirtschaftskrise steht die UPA-Regierung vor erheblichen Herausforderungen: das Haushaltsdefizit steht bei 5,1%. Auch der Haushalt 2011/12 steht deshalb deutlich im Zeichen der fiskalpolitischen Konsolidierung (Prognose 4,6%)
Struktur der Wirtschaft
Zu den Hauptcharakteristika der indischen Volkswirtschaft gehört das Missverhältnis zwischen BIP- und Beschäftigungsanteil bei Landwirtschaft und Dienstleistungen (mit umgekehrten Vorzeichen) und eine vergleichsweise geringe Bedeutung der verarbeitenden Industrie. Die überwiegende Mehrheit der indischen Bevölkerung lebt in überkommenen ländlich-agraren Strukturen und bleibt wirtschaftlich marginalisiert. Der BIP-Anteil der Landwirtschaft sinkt seit Jahren kontinuierlich und beträgt nur noch 14,2%. Angesichts gravierenden Kapitalmangels, viel zu kleiner Anbauflächen, stagnierender Erträge und fehlender Absatzstrukturen bleibt der Sektor, von dem weiterhin über die Hälfte aller Inder direkt abhängen (Beschäftigungsanteil 52%), Hauptsorge jeder indischen Regierung. Um die größte Not auf dem Lande zu mildern, wird inzwischen ein öffentliches Beschäftigungsprogramm für Familien unterhalb der Armutsgrenze implementiert. Es garantiert 100 Tage bezahlte Beschäftigung für jeweils ein Familienmitglied.
Wachstum und Wohlstand verdanken sich hingegen vor allem dem Dienstleistungssektor (57,3% BIP), wovon aber bei einem Beschäftigungsanteil von 25% nur eine Minderheit der Bevölkerung profitiert. Die zur Überwindung der Massenarmut notwendige massive Schaffung neuer, vor allem auch un- und niedrig qualifizierter Arbeitsplätze kann aus Sicht der Regierung am ehesten in der Industrie bzw. im verarbeitenden Gewerbe erfolgen, doch stagniert hier der BIP-Anteil bei 28,5%.
Nur ca. 8% aller Beschäftigten stehen in einem vertraglich geregelten Arbeitsverhältnis. Die übrigen 92% (in 98% aller Betriebe mit einem geschätzten BIP-Anteil von 60%) werden dem sog. „informellen Sektor“ zugerechnet – sie sind weder gegen Krankheit oder Arbeitsunfälle abgesichert, noch haben sie Anspruch auf soziale Leistungen oder Altersversicherung.
Neben der dynamisch expandierenden Privatwirtschaft, deren Investitionen entscheidend zur hohen Gesamtinvestitionsrate von 36,5% BIP (2009/10) beitragen, bleiben eine Reihe von Sektoren (insb. Öl, Gas, Kohle; Schwerindustrie; Transportwesen, Banken und Versicherungen) weitgehend von öffentlichen bzw. halböffentlichen Unternehmen dominiert. Mehrere Anläufe der reformerischen Kräfte in der Regierung, diese Strukturen wenigstens in kleinen Schritten aufzubrechen, sind bislang gescheitert.
Wirtschaftsklima
Die schiere Größe der indischen Volkswirtschaft, Demographie und anhaltend hohes Wachstum machen den Subkontinent zu dem nach China wichtigsten Markt der Zukunft. Ganz anders als in China treibt in Indien die Inlandsnachfrage die Entwicklung voran.
Als wesentlicher Grund für die mittel- bis längerfristig hohen Wachstumsprognosen wird gemeinhin die sogenannte „Demographische Dividende“ angeführt Geburtenrate sinkt nur langsam). Der Anteil der arbeitsfähigen Bevölkerung zwischen 15 und 64 Jahren wird bis 2026 auf 68,4% steigen. Dieses äußerst günstige Generationenverhältnis soll auch längerfristig hohe Sparraten (2009/10 33,7% BIP) ermöglichen, um privaten Konsum und Kapitalinvestitionen der Wirtschaft zu finanzieren. Die nötigen Arbeitsplätze müssen größtenteils allerdings erst noch geschaffen werden, ebenso sind massive öffentliche Investitionen in Bildung, Ausbildung und Gesundheitswesen Voraussetzung.
Im qualifizierten und hochqualifizierten Bereich gibt es jedoch mitunter Engpässe; die Lohnkostenentwicklung verläuft seit der Wirtschaftskrise etwas gedämpfter . (Nur etwa 5% aller dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehenden Personen verfügen nach Regierungsangaben über eine berufliche Qualifikation; bei den unter 30jährigen haben ganze 2% eine formale Berufsausbildung absolviert. Während derzeit jedes Jahr knapp 13 Millionen Menschen neu auf den Arbeitsmarkt strömen, wird die Zahl der landesweit zur Verfügung stehenden Ausbildungsplätze nur auf 4 Mio. beziffert.
Vor diesem Hintergrund hat die Regierung sich im 11. Fünfjahresplan (2007/8 – 2011/12) zum Ziel gesetzt, die Ausgaben für schulische und berufliche Bildung auf 6% des BIP zu verdoppeln. Zugleich wurde die Schaffung einer Ausbildungsstrategie „National Skills Development Mission“ und die Formulierung einer „National Employment Policy“ beschlossen, um dem Phänomen des Wachstums ohne zusätzliche Arbeitsplätze gezielt zu begegnen. Gravierende Defizite im Bereich Humankapital gelten mittlerweile als größte Gefahr für die Ausschöpfung des indischen Wachstumspotentials.
Die Umfang der Auslandsinvestitionen sind in den vergangenen Jahren stark gestiegen; zuletzt hatten sich die Hoffnungen jedoch nicht erfüllt. Der Umfang der Auslandsinvestition betrug im Zeitraum April-Dezember 2010 nur knapp 16 Mrd. USD gegenüber 21,5 Mrd. USD im Vorjahr). Unter Einschluss der reinvestierten inländischen Gewinne summierten sich die ausländischen Direktinvestitionen in diesem Zeitraum sogar auf knapp 30 Mrd. USD. Das entspricht 6,4% aller Bruttoinvestitionen und einen BIP-Anteil von etwa 2%.
Offenheit gegenüber der Weltwirtschaft
Indien hat sich in den vergangenen Jahren zunehmend gegenüber dem Ausland geöffnet. In den meisten Bereichen der Wirtschaft sind mittlerweile ausländische Direktinvestitionen zugelassen und die Obergrenzen für ausländische Beteiligungen wurden entweder ganz abgeschafft oder ausgeweitet. Zu den wenigen Branchen, die für ausländisches Kapital weiterhin komplett gesperrt bleiben, gehören der Einzelhandel und die Landwirtschaft sowie jene Handwerksbereiche, die in Indien der Kleinindustrie „small scale industries“ vorbehalten bleiben und wo industrielle Massenfertigung generell nicht zugelassen ist. Starke Begrenzungen für ausländische Firmen bestehen ferner weiterhin z.B. bei Banken und Versicherungen, im Bergbau sowie im Transportwesen und in bestimmten Teilen der Energiewirtschaft. Die Rüstungsindustrie ist immer noch staatlich dominiert; im Privatsektor beginnen sich erste Joint Ventures mit ausländischer Beteiligung zu etablieren (FDI-Obergrenze 26%). Neben einer vermeintlichen Beeinträchtigung der nationalen Sicherheit sind es vor allem sozial- bzw. beschäftigungspolitische Vorbehalte, die hier einer weiteren Öffnung für ausländische Investoren im Wege stehen. Es bleibt abzuwarten, ob das Freihandelsabkommen, das die EU im Laufe des Jahres mit Indien abzuschließen beabsichtigt, hier in einigen Sektoren wie Banken, Versicherungen und Einzelhandel zu substantieller Marktöffnung führen kann.
Insgesamt wurden die administrativen Verfahren erheblich gestrafft, um ausländisches Engagement in Indien zu erleichtern. Anstelle der früheren Genehmigungspflicht ist für die Mehrzahl der Sektoren die bloße Anzeigepflicht (sog. „automatic route“) getreten. Auch entwickelt sich ein reger Wettbewerb zwischen den Bundesstaaten um die Ansiedlung ausländischer Unternehmen . Die Sektoren mit den höchsten Auslandsinvestitionen sind IT und Elektronik, Dienstleistungen, Transportindustrie (hier vor allem Kraftfahrzeuge) und Energie.
Im Handel steht Indien auf der Gewinnerseite der Globalisierung. Der BIP-Anteil des Außenhandels erhöhte sich von 22,5% 2000/1 auf 33% im Fiskaljahr 2009/10 Indiens Exporte haben sich im gleichen Zeitraum fast verdreifacht. Der Anteil am Welthandel erreichte 2009 nach WTO-Angaben ca. 1,3% bei Waren und 2,5% bei Dienstleistungen. Damit nimmt Indien weltweit bei den Exporten Rang 21 bei Waren und Rang 12 bei Dienstleistungen ein.
Der Export stieg im Haushaltsjahr 2009/10 (Jan.-Dez.) um 29,5% auf 164,7 Mrd. USD während die Importe um 19% auf 246,7 Mrd. USD stiegen. Das wachsende Defizit in der Handels- und der Leistungsbilanz geht hauptsächlich auf die Verteuerung der Ölimporte und die anhaltend starke Nachfrage nach Kapitalgütern zurück. (Exporte im Zeitraum April bis Dezember 2009: 118 Mrd. USD (-20%)) (Importe im gleichen Zeitraum: 194 Mrd. USD (-24%))
Obwohl Indien seine angewandten Zölle in den letzten Jahren kontinuierlich gesenkt hat, wehrt es sich im WTO-Rahmen weiterhin gegen eine verbindliche Übernahme entsprechender Verpflichtungen. Nicht nur im weiterhin stark geschützten landwirtschaftlichen Bereich will Indien sich möglichst großen Spielraum bei der Festsetzung der Einfuhr- und Ausfuhrabgaben (z.B. auch bei Stahl, Zement) bzw. -beschränkungen und -verboten (z.B. Reis, Zucker) als Mittel zur Marktregulierung vorbehalten. Zwar hat auch die WTO in ihrer handelspolitischen Überprüfung Indiens vom Mai 2007 die intransparente und häufig durch diskretionäre politische Eingriffe verzerrte Zoll- und Abgabenstruktur sowie die weite Schere zwischen gebundenen und angewandten Zöllen deutlich als Handelshemmnis kritisiert, doch dürfte im gegenwärtigen weiter stark inflationären Umfeld kaum mit einem Verzicht der Regierung auf diese Hebel zu rechnen sein.
Aktuelle Wirtschaftsentwicklung, konjunkturelle Lage
Laut staatlicher Prognosen wird das Bruttoinlandsprodukt im Haushaltsjahr 20010/11 etwa 1.313 Mrd. EUR betragen (1.713 Mrd. USD) bei einem Pro-Kopf-Einkommen von 909 EUR/Jahr (1185 USD). Der Agrarsektor wuchs mit 5,4% vergleichsweise stark (0,4% im Vorjahr), der Industriesektor konnte gegenüber dem Vorjahr mit 8,1% kaum zulegen (8% im Vorjahr); der Dienstleistungssektor wuchs mit 9,6% sogar schwächer als im Vorjahr (10% im Vorjahr).
Bei Industrie und Dienstleistungen dürften sich verschiedene Folgeeffekte der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise bemerkbar machen (z.B. schwache externe Nachfrage); intern können allerdings die ungewöhnlich hohen Gewinnmargen der letzten Jahre ohne einen neuen Investitionszyklus nicht gehalten werden. Gerade der Infrastrukturbereich erweist sich als einer der größten Hemmfaktoren für noch höheres Wachstum.
Solange die Wachstumsraten nicht zweistellig werden und beschäftigungsintensive Investitionen im großen Umfang erfolgen, wird sich Indien nicht aus Armut und Unterentwicklung befreien können. Die Arbeitslosigkeit wird nach den letzten verfügbaren offiziellen Zahlen mit 7,4% angegeben; aber schon angesichts der Größe und mangelnden statistischen Erfassbarkeit des „informellen Sektors“ (Problem der Unterbeschäftigung in weiten Teilen) dürfte diese sehr viel höher liegen.
Das seit Anfang 2008 spürbare starke Anziehen der Inflation, angefacht vor allem von der globalen Entwicklung der Öl- und der Nahrungsmittelpreise, aber auch von der Verteuerung anderer volkswirtschaftlich wichtiger Güter wie Stahl, Zement oder Dünger, implizierte für Regierung und Zentralbank einen kaum auflösbaren Zielkonflikt zwischen Wachstum und Preisstabilität. Dieser hielt ungeachtet aller geldpolitischen Korrekturmaßnahmen durch die Zentralbank an. Nachdem die Verluste für den Staatshaushalt bzw. die staatlichen Energieunternehmen durch die Subventionierung der künstlich niedrig gehaltenen Verbraucherpreise für Benzin und Diesel ein nicht mehr tolerierbares Niveau erreicht hatten, rang sich die Regierung im Sommer 2008 zu einer sehr moderaten Energiepreiserhöhung durch – über die Kaskadeneffekte stieg die Inflation binnen zweier Wochen von zuvor 8,2 auf 12,6%, d.h. den höchsten Wert seit 13 Jahren. Erst in der Folge der einsetzenden Finanz- und Wirtschaftskrise und der sinkenden Weltmarktpreise für Öl sank die Inflationsrate wieder (0,2% September 2009). Nur dadurch war es Regierung und Zentralbank möglich, monetären zu lockern, um der Kreditknappheit auch in Indien abzuhelfen. Die Inflationsrate ist seither wieder gestiegen (Inflation 20010/11: 9,4% (WPI); 11% (CPI). Auf die Lebensmittelpreise bezogen fast um 18%; die Regierung hat hier noch kein wirksames Gegenmittel gefunden, die Ursachen sich angebots- und durch veränderte Ernährungsgewohnheiten – auch nachfragebedingt. Um den hohen Preissteigerungen entgegen zu wirken, hat die Zentralbank seit März vergangenen Jahres die Zinsen sieben Mal erhöht. Doch wird auch weiterhin nur mit einer allmählich sinkenden Inflationsrate gerechnet..
Hinweis